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Ratcatcher (1999)

Das unverblümte Leben im Schienenbett einer entgleisenden Gesellschaft

Irgendwo zwischen A und B, aber nie wirklich angekommen oder heimatlich. Für dieses emotionale Innenleben der Filmfiguren ist die schottische Regisseurin Lynne Ramsay mit ihrem Langspielfilm-Debut Ratcatcher (1999) bekannt geworden. Diesen Stil der sozialen Rastlosigkeit behält sie auch in ihrer späteren Laufbahn bei, und wurde folglich für Ratcatcher (1999), We Need to Talk About Kevin (2011) und A Beautiful Day (2017) beim Internationalen Filmfestival Mannheim Heidelberg 2024 (IFFMH) mit dem Grand IFFMH Award für „Filmemacher*innen der Gegenwart für ihre eigene, stilprägende Vision von Kino“ ausgezeichnet. Der Preis ist wohlverdient, da Ramsay mit Ratcatcher ein später, aber für die Erwartungen an ein Debut überraschend guter Beitrag zum Kitchen-Sink-Realismus gelungen ist. Handlungs­ort und -zeit ist nämlich eine verkommene Arbeiterschicht-Einöde bei Glasgow im Jahr 1973. Den realen Trans­formations­prozess, den Glasgow in den 70ern durchlebt hat, gibt Ramsay in diesem Werk unverschönt und realistisch wieder. Unter­malt wird dies im Film durch die Musik von Rachel Portman, welche zwei Jahre zuvor für die Literatur­verfilmung von Emma den Oscar für die Beste Musik gewonnen hatte.

Der Handlungs­fokus liegt auf dem 12-jährigen James Gillespie, gespielt von William Eadie, welcher in einer sozialen Elendsgegend ohne Ambitionen von Tag zu Tag lebt und dabei zusieht, wie im Zuge eines Müllarbeiterstreiks schwarze Plastikbeutel entlang der tristen Straßen zu Bergen heranwachsen. Inmitten dieser verdreckten Szenerie spielen die Kinder mit einer unschuldigen Ausgelassenheit, während die größeren Jugendlichen dem Teufelskreis der Frustration durch ihre Eltern und deren prekäre Umstände bereits verfallen sind.

Das Elend wird nicht versteckt dargestellt, sondern ist klar ersichtlich, denn der Film beginnt damit, dass James versehentlich seinen Spielfreund im nahegelegenen Kanal ertränkt. Es gibt kaum eine Person in diesem Film, die nicht versucht, dieser gesellschaft­lichen Misere durch eskapistische Verhaltensweisen zu entfliehen. Die große Schwester des Protagonisten fährt an nicht bekannte Orte, die älteren Jungs drangsalieren die Jüngeren und James selbst zieht es immer wieder in die noch unvollständige Neubauwohngegend. Der Vater, George, gespielt von Tommy Flanagan, bekannt aus Braveheart (1995) und Gladiator (2000), hat eigentlich einen weichen Kern, allerdings wird der die meiste Zeit durch seine Alkoholsucht und die damit einhergehenden, gelegentlichen Gewaltausbrüche überschattet. Dennoch wird gut dargestellt, dass selbst er ein Opfer des sozialen Elends ist. James’ wenig ältere, beste Freundin lässt mehrfach sexuelle Handlungen durch Gleichaltrige über sich ergehen. Ramsay ermöglicht es, durch die emotional ambivalenten Figuren für die meisten Beteiligten Mitleid zu erzeugen, obwohl viele auch schuldiger sind, als es aus der Sicht von James vielleicht erscheint. Es gibt eine kurze, jedoch nicht minder schöne Szene, welche beim Publikum für ein erfrischendes Lachen sorgt. Das liegt daran, dass die „Reise“ einer Maus zum Mond auf die zu Beginn erwähnte, kindisch-unschuldige Art und Weise dargestellt, kurz darauf aber von der doch unschönen Realität eingeholt wird.

Der Film ist zwar ab 12 Jahren freigegeben, jedoch ist es aus pädagogischen Gründen empfehlenswert ihn erst ab 16 Jahren freizugeben, da die Inhalte teilweise verstörend wirken oder Traumata triggern könnten. Diese Empfehlung ist berechtigt, zumal die Konflikte womöglich als jüngere Person ohnehin schwerer begreifbar sein können. In Großbritannien wurde der Film neben dem national bedeutsamen BAFTA Award noch mit weiteren, kleineren Preise und Nominierungen ausgezeichnet.


Allgemeine Filmdaten:

Originaltitel: Ratcatcher

Länge: 93 Minuten

FSK: 12; päd. Empfehlung: 16

Sprache: Englisch, teilweise Scots, mit deutschen Unter­titeln

Produktion: Pathé Pictures International & BBC Films

Produktions­land: Vereinigtes Königreich, Frankreich

Drehbuch & Regie: Lynne Ramsay

Musik: Rachel Portman