Medien begreifen: eine medienanthropologische Theorie der Taktilität
Abgeschlossenes Habilitationsprojekt von Peter Scheinpflug

Wie der Screenshot rechts zeigt, versucht am Ende der allersten Episode der als teuerste Serie aller Zeit beworbenden Streaming-Serie Herr der Ringe: Die Ringe der Macht (US/NZ 2022) ein elbischer Krieger den „blessed realm“ zu greifen, kurz bevor dieser ihn als gleißendes Licht der Erlösung=Auflösung verschluckt. Die Hauptfigur Galadriel zögert jedoch nicht nur, sondern wendet sich sogar vom „blessed realm“ ab, da sie schon die ganze Episode hindurch an der Frage verzweifelt, woran sie noch glauben kann. Die regelrecht banale Antwort auf diesen existenziellen Zweifel lautet „we cannot know until we have touched“.
Dieses Motiv der Realitätsprüfung qua Tasten findet sich ähnlich auch in älteren Darstellungen zur Realitätswahrnehmung wie beispielsweise in Camille Flammarions L’Atmosphère von 1888, Jan Vermeers Der Astronom von 1668 oder auch Caravaggios Darstellung des ungläubigen Thomas von 1601/
Als Antwortmöglichkeit arbeitet Peter Scheinpflug in der Monographie „Medien begreifen: eine medienanthropologische Theorie der Taktilität“ anthropologische Theorien u.a. von Melchior Palágyi, Arnold Gehlen und Martin Grunwald dazu auf, dass der Tastsinn sich als erstes Sinnessystem des Menschen bereits uteral ausbildet und konstitutiv ist für jedwede Selbst- und Weltwahrnehmung des Menschen. Ausgehend von dieser anthropologischen Grundannahme fragt die Monographie danach, wie sich Taktilität in unsere Konzeptionen von Medien, Mediennutzungspraktiken und Medienkulturen eingeschrieben hat und wie sich neue Ansätze der Medienkulturwissenschaft unter dem Vorzeichen der Taktilität denken lassen.
Das Leiden an der visuellen Kultur: Eine Kulturtheorie des Trostes durch Delegation
Im ersten Teil der Monographie wird nachgezeichnet, dass sich in vielen, vermeintlich okularzentrischen Konzeptionen von Medien und Mediennutzung wie dem Teleskop, dem Kino, dem Graphical-User-Interface, Museen oder auch Videospielen Verhandlungen des Tastsinns als primärem Sinn der Realitätserfahrung und Erkenntnis finden lassen. Dies wird begründet mit einer medienanthropologischen Theorie im Anschluss an Hans Blumenberg, die argumentiert, dass der Mensch in okularzentrischen Medienkulturen von seinem angeborenen Tastsinns entfremdet wird und daher zum Trost den Tastsinns an eben diejenigen Medien delegiert, die an dieser Entfremdung partizipieren.
Taktile Aneignung und haptic criticism
Im zweiten Teil wird im Anschluss an die phänomenologischen Studien von Laura U. Marks, Vivian Sobchack und Steven Shaviro ein Modell der taktilen Aneignung entwickelt, um die synästhetische Evokation taktiler Intensitäten durch audio-visuelle Reize zu erklären. Am Beispiel von Filmen und Fernsehsendungen von Christoph Schlingensief wird dieses Modell dann zu einem Modell der haptic criticism überführt, mit der sich das Publikum von tradierten Bildpolitiken und deren konventionellen Effekten emanzipieren kann.
haptic consciousness
Im dritten Teil wird im Anschluss an Vilém Flussers Versuche einer taktilen Medienwissenschaft ein Modell des taktilen Denkens entwickelt als Intervention in die Tradition vorrangig visuell konzipierter Modelle des Denkens. Im Anschluss an Vilém Flusser und Hans Blumenberg wird dies in ein Modell der haptic consciousness überführt, das ähnliche Ziele verfolgt wie die Posthuman Studies, aber dabei stets vom Menschen, seiner agency und seiner Verantwortung aufgrund seiner haptischen Verbundenheit mit seiner Umwelt ausgeht.
tactile agency
Zum Abschluss werden alle bisherigen Zugriffe auf Medien, Mediennutzung und Medienkulturen im Anschluss an Michel Foucault als taktile Selbsttechniken neu begriffen, die eine Ethik des taktilen Subjekts ermöglichen, um sich vom Visualprimat zu emanzipieren. Diese taktilen Selbsttechniken werden als tactile agency, als taktile Handlungsmacht aller Menschen bezeichnet.
Peter Scheinpflug hat die Monographie „Medien begreifen: eine medienanthropologische Theorie der Taktilität“ im Januar 2025 bei der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift eingereicht.