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Green Border (2023)

Wir schreiben das Jahr 2023, als in Cannes die Premiere von Green Border präsen ert wird. Die für gesellschaft­lich brisante Themen bekannte Regisseurin Agnieszka Holland zeigt mit diesem Film ein erschütterndes und auf vielen Ebenen eindrucksvolles Werk über die Flüchtlingskrise an der polnisch-belarussischen Grenze. In früheren Werken wie In Darkness (2011) und Europa Europa/Hitlerjunge Salomon (1990) befasste Holland sich mit den Kehrseiten der Geschichte, doch hier gelingt es ihr mit Green Border ein hochaktuelles Thema mit emotionalen und sachlichen Aspekten zu verknüpfen, um eindringlich die Brisanz der Situation zu verdeutlichen. Dabei führt sie das Publikum inhaltlich in eine politisch angespannte Auseinandersetzung mit den traumatischen Erfahrungen von Migrant*innen, die mit einem Systemgeflecht aus Bürokratie und staatlicher Willkür kämpfen.

Holland schafft eine Mischung aus dokumentarischem und fiktionalem Film, der mit bedrückender Bildsprache eine bannende Atmosphäre vermittelt, die das Publikum augenblicklich in das Geschehen zieht. Der dokumentarische Gestus erzeugt ein Gefühl der Ausweglosigkeit und der Einsamkeit, das die Flüchtlinge auf ihrer Reise erleben. Die Kameraführung, die den Weg entlang des „Grünen Grenzraums“ begleitet, lässt durch die langen, ruhigen Einstellungen einen Spielraum für die Entfaltung der Protagonisten, wohingegen die Natur mit dichten Wäldern und weiten Feldern eine konstante Bedrohung darstellt. Ebenfalls meisterlich umgesetzt ist die Veranschaulichung der Grenze als aktiver, feindseliger Ort, an dem die Bedürfnisse und Leidensgeschichten einzelner Individuen auf unbarmherzige, harte Politik treffen. Durch die Metaphorik der Natur macht Holland die Weite und Enge des Grenzgebiets zu einem charakteristischen Merkmal des Films.

An der Grenze zu Belarus vereinen sich hier miteinander verstrickte Schicksale von Geflüchteten, die alle aus Afrika oder dem Nahen Osten stammen. Hier sind sie nun Angst, Brutalität und Hilflosigkeit ausgesetzt, während sie die psychische und physische Belastung in der Grenzregion durchleben. Besonders ergreifend baut Holland dabei die eigenen Geschichten und Schicksale der Protagonisten in den Mi elpunkt des Films ein, sodass die Zuschauer*innen von Verzweiflung, Über­lebens­willen und bi eren Rückschlägen zu efst berührt werden. Fortschreitend zu der erwähnten psychischen und physischen Herausforderung bildet die Dehumanisierung der Flüchtenden ein Kernelement von Green Border, wobei hier vor allem die erschütternde Szene in einem Sammellager erwähnenswert ist, da die dort gruppierten Flüchtlinge von den polnischen Beamten unter menschenunwürdigen, grausamen Bedingungen festgehalten werden. Diese Symbolik verdeutlicht, wie Systeme und unentschlossene Poli k zu humanitären Notlagen führen können.

Das Dilemma zwischen empathischem Verständnis einerseits und bürokratischen Vorgaben andererseits wird insbesondere verdeutlicht durch die Figur einer polnischen Grenzbeamtin, die zwischen Pflichtbewusstsein und moralischen Zweifeln schwankt. Agnieszka Holland inszeniert sowohl die Beamtin als auch eine weitere Aktivistin als kraftvolle, starke Figuren, die dem Publikum eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen moralischen Standards ermöglichen.

Unter all diesen emotionalen und ethischen Komponenten vergisst die Regisseurin jedoch nicht die erforderliche Schärfe für die politischen Ausmaße, sodass die harsche Kritik an der polnischen Migrations­politik eine unübersehbare Wirkung erhält. Als Konsequenz für das Publikum ergibt sich dahingehend eine zunehmende Brachialgewalt an den EU-Außen­grenzen, die mittlerweile exemplarisch für Willkür und Menschenrechts­verletzungen stehen. Dabei drängt sich die Frage auf, wie die europäische Solidarität mit den Migranten*innen aussieht, wenn die nationalen Grenzen von Angst, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geprägt sind.

Zudem wirft der Film grundsätzliche Fragen über die individuelle Existenz eines jeden Menschen auf: Wie hoch ist unsere Hilfsbereitschaft? Wie sehr setzen wir uns für Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft stehen? Wie beeinflussen uns politische Entscheidungen und Richtlinien in unseren eigenen moralischen Einstellungen?

Green Border ist summa summarum ein nuancierter, alarmierender Film, der emotionale und thematische Herausforderungen bietet. Die brutalen Realitäten der Flüchtlingskrise werden in einer Modalität dargestellt, die ergreifend aber auch bedrückend ist. Authentische, kraftvolle Figuren, eine überwältigende Bildsprache und ausführliche Auseinandersetzungen mit politischen und moralischen Problematiken machen Green Border zu einem Film, der kein leichtes Filmerlebnis bietet und stattdessen versucht, die Unter­stützung für das Schicksal derjenigen zu übernehmen, die die Ränder unserer Gesellschaft bilden. Appellativ fordert Agnieszka Holland mit diesem bildgewaltigen und metaphernreichen Kunstwerk die Menschen auf, Verantwortung für die Schwächeren zu übernehmen, um die Funktionalität des Gesamtkomplexes zu gewährleisten und in einer Erfolgs­gesellschaft die menschlichen Komponenten nicht zu vergessen.


Allgemeine Filmdaten:

Titel: Green Border (Originalttel: Zielona granica)

Regisseur*in: Angieszka Holland

Produktions­land: Polen, Tschechien, Frankreich, Belgien

Erscheinungs­jahr: 2023

Länge: 147 Minuten

Altersfreigabe: FSK 12