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Meine Schwester (2001)

Männlicher Machtanspruch trifft weibliche Selbst­bestimmung

Ein weiblicher Körper, der dem männlichen Machtanspruch hilflos gegenübersteht. Wie nah Pubertät, Entjungferung und männliche Triebbefriedigung miteinander verbunden sind, zeigt die Regisseurin und Drehbuchautorin Catherine Breillat mit ihrem französischen Drama À ma sœr! (dt.: Meine Schwester) aus dem Jahr 2001. Breillat ist für Filme wie L’été dernier/Im letzten Sommer (2023), Brève traversée/Kurze Über­fahrt (2001) und Romance (1999) bekannt. Die Regisseurin rückt das Thema Sexualität in das Zentrum ihrer filmischen Arbeit, dieses durchzieht ihre Werke wie ein roter Faden. Im Rahmen des 73. Internationalen Filmfestivals Mannheim Heidelberg wird Meine Schwester im Rahmen der Retroperspektive Körper im Film gezeigt. Hierfür wurden Filme der letzten Jahrzehnte herausgesucht, die die vielfältigen Darstellungs­weisen von Körpern im Film aufzeigen.

Breillats Film handelt von dem Sommerurlaub zweier Schwestern, die kaum unter­schiedlicher sein könnten. Die pummelige 13-jährige Anaïs und ihre hübsche 15-jährige Schwester Elena haben eine eher schwierige Beziehung zueinander. Sie dürfen nur gemeinsam unter­wegs sein; so erhoffen sich die Eltern, dass Elena keine männlichen Kontakte knüpft. In einem kleinen Café lernen die beiden Schwestern allerdings Fernando, einen italienischen Jurastudenten, kennen. In einer gemeinsamen Nacht gelingt es Fernando, mithilfe vieler Komplimente und Druckaufbau, Elena schließlich zu entjungfern. Anaïs bekommt alles mit und liegt tränen­unter­laufen im Bett gegenüber. Im Laufe der Handlung manipuliert der Student Elena weiterhin, schenkt ihr einen Ring seiner Mutter und spricht vom Verloben. Als die Eltern der beiden Schwestern von allem erfahren, soll sich Elena einer Unter­suchung beim Frauenarzt unter­ziehen. Auf dem Weg dorthin widerfährt den drei Frauen etwas Schreckliches.

Der 95-minütige Film thematisiert die weibliche Selbst­bestimmung, die männliche Manipulation und das weibliche Körpergefühl. Breillat zeichnet mit Anaïs ein selbstbewusstes junges Mädchen, das vor nichts zurückschreckt. Gezwungen die schmerzhafte Entjungferung ihrer älteren Schwester mitzuerleben, entwickelt die junge Protagonistin einen Widerwillen einem Mann ihre Jungfräulichkeit zu schenken. Diese Standhaftigkeit wird vor allem gegen Ende des Dramas deutlich, als Anaïs ihre Vergewaltigung nicht zugibt. Sie will sich nicht eingestehen, dass ein Mann ihre Entjungferung für sich beanspruchen kann. Die französische Regisseurin symbolisiert mit Anaïs den Widerstand, die Rebellion gegen den männlichen Machtanspruch. Das fest im Mann verwurzelte Denken, er könne Macht über den Körper einer Frau ausüben, soll gestürzt werden. Im Kontext der Retroperspektive soll auch gezeigt werden, welche Körper oft unsichtbar bleiben. Breillat bricht klar mit idealisierten Körperbildern, indem sie nicht nur normschöne Körper zeigt, sondern besonders Anaïs Körper ungeschönt dargestellt. Meine Schwester vereint eine Vielzahl von verschiedenen Themen. Auch die Beziehung der beiden Schwestern, geprägt von dem Spannungs­gefühl der Hassliebe, wird thematisiert. Phasenweise herrscht zwischen Anaïs und Elena Konkurrenz, dennoch gibt es auch Momente der Vertrautheit, etwa wenn sie sich über intime Themen austauschen. In einem Gespräch über die Entjungferung stellt sich heraus, dass Anaïs kühl und abgeklärt an ihr ‚erstes Mal‘ herangehen möchte. Elena hingegen setzt auf Leidenschaft, Romantik und starke Gefühle. So führen emotionale Erpressung und Manipulation im Endeffekt zu Elenas Entjungferung. Durch Fernandos Komplimente ist sie bereit mit ihm zu schlafen, obwohl es sich falsch anfühlt. Mit der Dauer dieser Szene zeigt Breillat den Prozess der Zerrissenheit und Ungewissheit. Es ist nichts, was mal eben so passiert, sondern etwas Besonderes. Um dies klarzumachen, beleuchtet sie die Psyche der Protagonistinnen. Der Film wirkt oft fast dokumentarisch, was der unaufdringlichen Kameraführung zu verdanken ist. Der Alltag der Figuren wird beobachtet, dadurch wird diese dokumentarische Nähe geschaffen. Häufig wird aber auch die Perspektive von Anaïs in den Vordergrund gestellt, sodass Zuschauer*innen ihre Wahrnehmung besser nachvollziehen können. Breillats Stil verleiht den Szenen eine tiefere Aussagekraft. Das Dehnen von Szenen erzeugt eine unangenehme Atmosphäre, der man sogar als Zuschauer*in entfliehen möchte. Ein gewisses Unbehagen, in die Position eines Beobachters versetzt zu werden, so vor allem in Szenen wie die der Entjungferung.

Catherine Breillat verfolgt eine radikales und schonungs­loses Inszenierungs­konzept. Um die emotionalen Konflikte der Protagonistinnen ungefiltert darzustellen, setzt die Regisseurin auf minimalistische Ästhetik und Stilmittel. Meine Schwester konfrontiert die Zuschauerschaft auf eine provokante Art und Weise. Es gibt keine kunstvollen Ausschmückungen und keinen Schleier, der sich über die Handlung legt und die Thematik somit vorsichtig an die Zuschauer*innen bringt. Ein gewisses Unbehagen und offene Fragen bleiben zurück. Das Über­denken gesellschaft­licher Konstrukte, der patriarchalen Macht, der wir uns unter­ordnen. Der Film ist nicht für jede Alters­gruppe geeignet und hat eine Altersfreigabe ab 16 Jahren. Meine Schwester ist keine leichte Kost, doch hinsichtlich der behandelten Thematik und vor dem Hintergrund, dass all dies noch immer ernstzunehmende Probleme unserer Gesellschaft sind, ist der Film sehenswert.