Forschung

Unsere Arbeits­schwerpunkte liegen in den Bereichen der deutschen, britischen und amerikanischen Geschichte in internationaler, transnationaler und globaler Perspektive, vom späten 18. Jahrhundert bis ins frühe 21. Jahrhundert.


1. Nationalstaat und Globalisierung

Das derzeitig zentrale Forschungs­feld ist das Verhältnis von Nationalstaat und Globalisierung, vor allem seit 1990, aber auch dessen Vorgeschichte seit dem 19. Jahrhundert. Teilaspekte sind die Bedeutung des nationalen Denkrahmens für die liberale Demokratie, die Verbindung von Staat und Gesellschaft im nationalen Rahmen, der Wandel des Staats- und Gesellschafts­begriffs, die Erosion des Nationalstaats als soziales Imaginäres bzw. als gedachte Ordnung, sowie die Historisierung des nationalen Geschichtsdenkens. Methodisch werden dabei Perspektiven der Globalgeschichte auf den Nationalstaat und die nationale Ordnung als Gegenstände angewendet. Die Analysekategorie des Nationalen wird damit selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht.

Im Forschungs­kontext angesiedelte Buch­projekte und Qualifikations­arbeiten:

  • Buch­projekt Prof. Dr. Julia Angster: Nationalstaat und Globalisierung: eine verflochtene Geschichte

  • Dissertations­projekt Frank Kell: Aufruhr in Ostdeutschland. Die „Wende“ und die Erosion der arbeiterlichen Gesellschaft, 1989/90–2004 

    Das Promotions­projekt untersucht die Transformation Ostdeutschlands nach 1989/90 auf einer ideen- und gesellschafts­geschichtlichen Ebene. Im Zentrum steht die Frage, wie sich Gesellschafts­vorstellungen ostdeutscher Akteure unter dem Eindruck raumgreifender Deindustrialisierungs­prozesse wandelten. Den empirischen Ausgangspunkt bilden die von Betriebs­belegschaften und lokalen Öffentlichkeiten in Arbeiter- und Sozialprotesten artikulierten Krisen- und Verlustdiagnosen. Wie wird Gesellschaft gedacht, wenn industrielle Arbeit in einer Welt, die durch die Ordnungs­vorstellung einer arbeiterlichen Gesellschaft strukturiert ist, plötzlich zu verschwinden droht?

  • Dissertations­projekt Lukas Hezel: Vom Antiimperialismus zur Globalisierungs­kritik. Der Nationalstaat im Denken der globalisierungs­kritischen Bewegungen, 1988-2007

    Das Promotions­projekt untersucht, wie linke Globalisierungs­kritiker in den 1990er und 2000er Jahren auf die wahrgenommene „Erosion der nationalen Ordnung“ reagierten und vor diesem Hintergrund ihre handlungs­leitenden Ideen und Lösungs­strategien entwickelten. Die ökonomischen Prozesse von Entgrenzung und Verflechtung, so die Wahrnehmung, entzogen sich zunehmend der Kontrolle der national organisierten Gesellschaften und untergruben dadurch die Fundamente jeder demokratischen Selbststeuerung. Die Globalisierungs­kritiker nahmen die Welt nicht mehr als ein Nebeneinander von territorial begrenzten Gesellschaften wahr, sondern sie machten den gesamten Globus als einen „single independent place“ (Manfred Steger) zum Referenzpunkt ihres politischen Denkens und Handelns. Das Projekt fragt nach den handlungs­leitenden Ideologien und Ordnungs­vorstellungen der Akteure. Methodisch folgt die Untersuchung dabei dem Ansatz der Neuen Ideengeschichte, die um eine hegemonietheoretische und globalhistorische Perspektive erweitert wird.

  • Dissertations­projekt Grischa Sutterer: Krieg ohne Gesellschaft. Private Security Companies und die Etablierung des postkolonialen Staaten­systems, 1956 – 1986

    Die Bezeichnung PMC beschreibt einen privatwirtschaft­lich strukturierten Personenzusammenhang, der im Rahmen einer staatlich-privaten Kooperation bestimmte Funktionen der Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols übernimmt. Private Militärdienstleister treten erstmals in den 1960ern auf, expandieren seitdem kontinuierlich sowohl in ihrer Anzahl als auch beim Personal, welches nahezu ausschließlich aus ehemaligen Soldaten besteht. Die Funktion der privaten Militärdienstleister verweist auf eine neue Konfiguration von diffundierter Staatlichkeit, die sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges entwickelte. Innerhalb eines politisch definierten ideellen Referenzrahmens kooperierten seitdem eine Kombination von öffentlichen Institutionen, zivil­gesellschaft­lichen Organisationen, kollektiven und individuellen Akteuren auf bestimmten Problemfeldern. PMCs fungierten dabei als Goverance Akteure, die innerhalb eines politischen Netzwerkes an militärischen Governance Prozessen, vornehmlich im nationalen Rahmen, seit den 1980ern aber auch in transnationalen Netzwerken, partizipierten. Das Er­kenntnisinteresse der Arbeit ist es, mithilfe der Geschichte der ersten Generation privater Militärdienstleister den mit der Neustrukturierung des Gewaltmonopols einhergehenden Wandel von Nationalstaatlichkeit im militärischen Bereich anhand der zugrundeliegenden politischen Ordnungs­vorstellungen zu analysieren.

  • Dissertations­projekt Vicky Müller: Nationalisierung vor Ort: Das Meldewesen im Deutschen Kaiserreich

    Im Mittelpunkt des Forschungs­vorhabens „Nationalisierung vor Ort: Das Meldewesen im Deutschen Kaiserreich“ steht das Meldewesen als staatliche Verwaltungs­praxis und dessen Rolle im nationalstaatlichen Unitarisierungs­prozess. Die Auswertung und der Vergleich von Polizeiverordnungen zum Meldewesen und den Melderegistern soll zeigen, inwieweit das Meldewesen als Reaktion auf strukturelle Veränderungen gesehen werden kann, die sich im Prozess der Nationalisierung herausgebildet und verstärkt haben und zum Problem wurden. Als Beispiel ist hier die gestiegene Mobilität und damit einhergehend die Binnen­migration zu nennen, die die Einzelstaaten und Kommunen im Nationalisierungs­prozess vor große Herausforderungen stellte. Daher soll die Rolle staatlicher Verwaltungs­praktiken, hier des Meldewesens, im Nationalisierungs­prozess vor dem Hintergrund der ausgeprägten föderalistischen Tradition im Deutschen Kaiserreich untersucht werden.

Im Forschungs­kontext erschienene Publikationen

  • Julia Angster: Das Ende des Konsensliberalismus. Zur Erosion einer Werteordnung „nach dem Boom“, in: Christian Marx/Morten Reitmayer, Hrsg.: Die offene Moderne. Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Festschrift für Lutz Raphael, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020, S. 189–213.
  • Julia Angster: Globalisierung als Bedrohung der Demokratie?, in: Paul Nolte/ Martina Steber (Hrsg.): Stabilitäten und Unsicherheiten. Neue Perspektiven auf die bundes­republikanische Demokratie (= Rhöndorfer Gespräche), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, i. E. 2021.
  • Julia Angster: Staats­bürgerschaft und die Nationalisierung von Staat und Gesellschaft, in: dies./Dieter Gosewinkel/Christoph Gusy: Staats­bürgerschafft im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Veröffentlichung aus dem Arbeits­kreis für Rechts­wissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Mohr Siebeck, Tübingen 2019, S. 79–144.
  • Julia Angster: John Robert Seeley, The Expansion of England (1883), in: Manfred Brocker (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens III, Suhrkamp Verlag, Berlin, i. E. 2021.
  • Almuth Ebke: Britishness. Die Debatte über nationale Identität im Vereinigten Königreich, 1867–2008, Berlin 2019.
  • Almuth Ebke: Between Empire and Nation: the Reform of the British Nationality Law, Internal Decolonization and the Politics of Belonging in post-imperial Britain, ca. 1981, in: Levke Harders, Falko Schnicke, Hrsg., Practising Borders: Belonging to Empires, Nations, and Regions in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Oxford University Press: Oxford i.E. 2021.
  • Almuth Ebke: The decline of the mining industry and the debate about Britishness of the 1990s and early 2000s, Contemporary British History 32/1 (2018), S. 121–141.
  • Almuth Ebke: Zerbricht der Brexit das Vereinigte Königreich? Nationalismus und Autonomiestreben in Großbritannien seit 1977, in: Geschichte der Gegenwart (7.2.2021)
  • Frank Kell, „Demokratie und Sozialismus und Freiheit“. Die DDR-Bürgerrechts­bewegung und die Revolution von 1989/90, Darmstadt 2019.

Ankündigungen und Neuigkeiten zum Forschungs­schwerpunkt

Sektion „Denationalisierung als Gegenstand und Perspektive der Zeitgeschichte“ auf dem 53. Deutschen Historikertag, 5.–8. Oktober 2021, München. Das Programm und die Anmeldung zur Fach­sektion finden Sie hier.


2. Religion und Moderne

Der zweite Forschungs­schwerpunkt widmet sich dem Stellenwert von Religion in der europäischen ‚Moderne‘ in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum steht die Frage, wie auf ideenhistorischer Ebene der Stellenwert von Religion als Weltdeutungs­system neu definiert wurde und wie religiöse Akteure in politischen Auseinandersetzungen ihren gesellschaft­lichen Platz neu fanden.

Im Forschungs­kontext entstehende Qualifikations­arbeiten:

  • Habilitations­projekt Almuth Ebke: Das Andere der Moderne? Die historisch-kritische Bibelforschung und die „Einhegung“ von Religion, ca. 1860–1920

    Das Habilitations­projekt untersucht anhand der Debatte um die historisch-kritische Bibelforschung die unterschiedlichen Facetten religiös-historischen Denkens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In den Konflikten zwischen wissenschaft­licher Deutung, politischer Einschränkung und theologischer Verortung wurde Religion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Konzept neu definiert, in ihrem Geltungs­bereich privatisiert und historisch-soziologisch als gesellschaft­liches Teil­system eingehegt. Diese konzeptionelle Einhegung von Religion in eine historistische Weltsicht verlief zeitgleich zu einer zunehmenden Professionalisierung des Wissenschafts­betriebs und der Verfestigung der disziplinären Trennung von Natur- und Geistes­wissenschaften in separate wissenschaft­liche Gemeinschaften. Das Wissenschafts­verständnis, das sich entlang dieser Auseinandersetzungen herausbildete, war grundlegend historisch-evolutionär gedacht, säkular verstanden und dem Fortschritt verpflichtet. Diese Auseinandersetzung war damit, so die These, grundlegend für den am Ende des 19. Jahrhunderts geprägten Diskurs der Moderne, in dem Säkularität zu einem grundlegenden Merkmal erhoben wird, die Entwicklung dahin jedoch als ein Prozess betrachtet wird, der – und das ist zentral – historisch abläuft.

  • Dissertations­projekt (in Vorbereitung) Julia Friedrich: Die Konkurrenz zwischen Staat und Kirche bei der Ausformung der italienischen Gesellschaft seit den 1860er Jahren

    In diesem Dissertations­projekt soll es um das Verhältnis von Katholischer Kirche und nationalstaatlichen Instanzen im Prozess der Nationalisierung der italienischen Gesellschaft gehen. Beide Institutionen beanspruchten, die Wertewelt und die innere Ordnung der neugegründeten italienischen Gesellschaft zu bestimmen – einer Gesellschaft, die sehr inhomogen und divers war und nun zu einer möglichst homogenen sprachlichen, kulturellen und Werte-Gemeinschaft geformt werden sollte, die als politische Gemeinschaft den jungen Nationalstaat tragen sollte. Wie interagieren Staat und Kirche bei diesem Unterfangen? Besteht ein Konkurrenz­verhältnis, gar ein Primatsanspruch, und wo kommt dieser zum Ausdruck? Welche Ordnungs­praktiken, welche Felder der Intervention und welche Akteure lassen sich in diesem Kontext in beiden Institutionen ausmachen?

Im Forschungs­kontext angesiedelte Herausgeberschaften

  • Julia Angster: Mitherausgeberschaft der interdisziplinären Reihe „Religion in der Bundes­republik Deutschland“ bei Mohr Siebeck, Tübingen (gemeinsam mit Proff. Christian Albrecht, Reiner Anselm, Andreas Busch, Hans Michael Heinig, Christiane Kuller).

Ankündigungen und Neuigkeiten zum Forschungs­schwerpunkt

Almuth Ebke: Organisation des internationalen Workshops Conceptualising Modernity. An interdisciplinary dialogue in Kooperation mit Dr. Christoph Haack und dem SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“ an der Universität Tübingen, 9./10. Dezember 2021.


3. Historiographische Perspektiven

Das Verhältnis von Globalgeschichte und Nationalgeschichte in der gegenwärtigen Geschichts­wissenschaft bildet den dritten Forschungs­schwerpunkt des Lehr­stuhls. Die Abgrenzung von der Nationalgeschichte, von ihren Gegenständen, Ansätzen und Methoden, ist wesentlich für die Definition und das Selbstverständnis der Globalgeschichte. Jedoch müsste ein Überwinden des nationalen Rahmens in der Geschichtsschreibung deutlich mehr umfassen als die Frage der Flughöhe, der Skalierung, des räumlichen Zuschnitts der Untersuchung. Eine Denationalisierung des historischen Blicks müsste vielmehr nicht-eurozentrische und postkoloniale Perspektiven auf bisher von der Globalgeschichte vernachlässigte Gegenstände wie den Staat und die Gesellschaft mit einschließen.

Im Forschungs­kontext erschienene Publikationen