Alte Geschichte zurechtgebogen

Die Römer in der deutschen Politik

Im Wahl­programm der AfD stößt der historisch Interessierte auf folgende Sätze: „Die AfD bekennt sich zur deutschen Leitkultur. Diese fußt auf den Werten des Christentums, der Antike, des Humanismus und der Aufklärung.“ Die deutsche Leitkultur speist sich also aus der Antike, aber was soll das konkret heißen? Hat die AfD Hinweise auf Sauerkraut, Händeschütteln oder samstägliches Autowaschen in antiken Texten gefunden? Nein, konkreter wird es in einer früheren Version, die noch auf der Facebook-Seite der AfD zu finden ist: „Die Alternative für Deutschland bekennt sich zur deutschen Leitkultur, die sich im Wesentlichen aus drei Quellen speist: erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaft­lich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechts­staat fußt.“ So viel Antike in der deutschen Leitkultur, stellt der Althistoriker begeistert fest, runzelt aber bald die Stirn, insbesondere beim letzten Aspekt. Die römischen Einflüsse auf unser Rechts­wesen sind unbestritten, aber wer den modernen Rechts­staat auf die Römer zurückführen will, muß die historischen Tatsachen grob mißachten. Es war den Römern fremd, allen Menschen unveräußerliche Grundrechte zuzugestehen – vielleicht hat man in der AfD schon einmal etwas von antiker Sklaverei gehört. Und auch ein weiteres zentrales Element des modernen Rechts­staates, die Unabhängigkeit der Gerichte von der Regierung, fehlte dem römischen System: Dort hatte, bei aller Vielfalt der gerichtlichen Institutionen, im Zweifelsfall der Kaiser das letzte Wort. Dies mag der AfD-Führung mit ihrer Sympathie für Autokraten gefallen, mit Rechts­staatlichkeit hat es nichts zu tun.

Die AfD bietet damit ein besonders auffälliges Beispiel für Geschichtsverfälschung, doch sie ist nicht die einzige Partei, die einen bizarren Umgang mit der römischen Geschichte pflegt. Oscar Lafontaine äußerte sich in einer Rede auf dem Parteitag der „Linken“ (15. Mai 2010) wie folgt: „Für mich war der demokratische Sozialismus immer eine Bewegung hin zur menschlichen Freiheit, hin zur Freiheit eines jeden Einzelnen. Deshalb steht er in einer großen historischen Tradition. Ich nenne mal die Sklavenaufstände in Rom, ich nenne die Bauernkriege im Mittelalter, ich nenne die Französische Revolution, ich nenne die Novemberrevolution 1918, die wir immer noch aufarbeiten müssen, und ich nenne auch die friedliche Revolution 1989. In dieser Freiheitstradition steht der demokratische Sozialismus, stehen wir alle.“ Richtig ist, daß es in Rom Sklavenaufstände gab, am berühmtesten derjenige unter Führung des Gladiators Spartacus (73–71 v. Chr.). Falsch ist, daß damit eine Bewegung hin zur Freiheit eines jeden Einzelnen verbunden war, denn die aufständischen Sklaven hatten keinesfalls die Abschaffung der Sklaverei im Sinn – diese blieb in der Antike unangetastet.

Ein letztes Beispiel, wieder aus einer anderen politischen Richtung. In einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ (11. Februar 2010) kritisierte der damalige Bundes­außen­minister Guido Westerwelle die hohen Hartz IV-Sätze und untermauerte seine Position mit einem Verweis auf die Antike: „Wer dem Volk anstrengungs­losen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern. In vielen aufstrebenden Gesellschaften andernorts auf der Welt wird hart gearbeitet, damit die Kinder es einmal besser haben.“ Mit „spätrömischer Dekadenz“ bezieht sich Westerwelle wohl auf die in vielen Hollywood-Filmen genährte Vorstellung, die Römer hätten über ihren Intrigen und Saufgelagen die Verteidigung ihres Reichs vernachlässigt, das daraufhin zur Beute der frischen, aufstrebenden Germanen wurde. Innovativ ist allerdings Westerwelles Andeutung, das Imperium Romanum sei an zu hohen Sozialausgaben gescheitert. Diese These war der Geschichts­wissenschaft, trotz aller Forschungs­kontroversen über den Niedergang des Römischen Reiches, zuvor unbekannt, aus einem simplen Grund: Es gab in Rom kein staatliches Sozial­system, keine Renten, kein Arbeits­losengeld und keine Sozialhilfe.

Der springende Punkt ist nun nicht, daß die Genannten Wissenslücken in der römischen Geschichte haben. Bemerkenswert ist vielmehr, daß sie trotzdem mit römischer Geschichte argumentieren. Das Kalkül ist nicht schwer zu entschlüsseln: Politische Positionen sind nicht notwendigerweise ideologisch aufgeladen, die drei zitierten sind es. Mit dem Verweis auf die Geschichte ist die Absicht verbunden, den ideologischen Charakter des eigenen Standpunkts zu verschleiern, indem man diesen mit Geschichte, mit tatsächlich Geschehenem verknüpft. Die AfD möchte ihrem völkisch-nationalistischen Markenkern einen bieder-bürgerlichen Mantel umhängen, indem sie die gediegenen Römer für sich in Anspruch nimmt. Lafontaine konstruiert in guter sozialistischer Tradition einen jahrtausendealten Freiheitskampf, Westerwelle malt, wie unter markt­radikalen Ideologen üblich, die Apokalypse an die Wand, wenn man nicht den Sozialstaat beschneide: Wenn schon das große Imperium Romanum an zu hohen Sozialausgaben zerbrochen sei, wird implizit gefragt, wie solle dann Deutschland überleben.

Es gibt Leute, die meinen, Historikerinnen und Historiker würden nicht benötigt, da sowieso jedermann über Geschichte rede. Wie die genannten Beispiele zeigen, ist die gegenteilige Schlußfolgerung richtig. Gerade weil Ideologen aller Couleur so gerne mit Geschichtsfälschungen arbeiten, benötigt eine offene Gesellschaft Geschichts­wissenschaft. Daran sollten alle diejenigen erinnert werden, die den Stellenwert von Geschichte an Schulen und Universitäten beschneiden möchten!

Christian Mann, 15. September 2017

Christian Mann ist Inhaber des Lehr­stuhls für Alte Geschichte an der Universität Mannheim.

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