„Immer der Beste zu sein und ausgezeichnet vor andern“, das soll laut seinem Vater Peleus das Ziel des griechischen Helden Achilles sein (Il. XI 784; vgl. VI 208). Darüber hinaus kann dieses Zitat aber auch als eine treffende Charakterisierung der antiken griechischen Mentalität gelten: Diese ist nämlich von Friedrich Nietzsche und vom schweizerischen Kulturhistoriker Jakob Burckhardt als grundsätzlich kompetitiv charakterisiert worden, oder, mit einem Wort, das auf das griechische Wort für Wettbewerb, agon, zurückgeht, „agonal“. Es ist sogar gesagt worden, dass für die Griechen das Leben selbst ein agon war. Ständig Exzellenz (arētē) anzustreben, um Anerkennung und Ehre (timē) zu bekommen, war das Ideal und Ziel der griechischen Aristokraten und freien Bürger. Dieser Ehrgeiz (philotimia) führte auch dazu, dass man sich immer mit Mitbürgern und aristokratischen Konkurrenten messen und mehr Ehre erlangen wollte als diese. Nur vor diesem Hintergrund können wir Platons (rep. 465d) Aussage verstehen, dass Olympiasieger das glückseligste Leben führten. Ein Äquivalent zu einer Silbermedaille gab es in Olympia, wie bei den meisten anderen Agonen, nicht; ganz im Gegenteil: Alle, die nicht gewonnen hatten, duckten sich scheu, „die Gassen entlang, fern den Feinden, … verwundet von des Unglücks Biss“ (Pind. Pyth. 8, 86–87, Übers. O. Werner).
Wenn man die griechische Gesellschaft als grundsätzlich agonal beschreibt, geht es aber nicht nur darum, dass es die verschiedensten Wettbewerbe gab, von unterschiedlichen Sportarten bis zu Schönheitskonkurrenzen für Männer und Spinnwettbewerbe für Mädchen. Vielmehr gab es eine kompetitive Mentalität, die in allen gesellschaftlichen Bereichen spürbar war. Das Agonale kam auch im politischen Leben zum Ausdruck, wo der kompetitive Ehrgeiz öfter zu Streitigkeiten oder sogar Staatsstreichen führte. Vor allem in Athen war das Gericht ein weiteres Umfeld, wo ein gesellschaftlicher agon ausgetragen wurde: Prozesse waren eine beliebte Aktivität der Athener und wurden als Wettbewerb zwischen den beiden Parteien konzipiert, sogar so sehr, dass agon auch ein übliches Wort für „Prozess“ war.
Auch im kulturellen Bereich war der Wettbewerb omnipräsent: Klassiker der Weltliteratur wie die athenischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides wurden für das jährliche Festival der Dionysia geschrieben, wo reiche Athener viel Geld ausgaben, damit die von ihnen gesponserte Trilogie den Sieg davontrage. Populär war es auch, die ersten großen griechischen Dichter, Homer und Hesiod, in ein Konkurrenzverhältnis zu setzen, obwohl sie wahrscheinlich keine wirklichen Zeitgenossen waren. Sogar in der Wissenschaft, Philosophie und Medizin gab es einen ständigen Konkurrenzkampf und Ärzte versuchten einander in öffentlichen Debatten zu besiegen, selbst wenn sie in der medizinischen Praxis völlig erfolglos waren. Der wissenschaftliche Diskurs der Griechen war deshalb extrem polemisch. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (c. Ap. I 25), zum Teil um genau dasselbe bemüht, kritisiert die griechischen Historiker: Sie wählten ihre Themen mit dem Ziel aus, ihre Vorgänger zu überstrahlen, und sähen das Kritisieren anderer Historiker als eine Chance, die eigene Reputation zu steigern.
Nicht alle diese Aspekte des Agonalen in der griechischen Gesellschaft werden den modernen Leser erstaunen, aber zusammengenommen erscheinen sie trotzdem sehr beachtlich. Man kann sich dies am besten vor Augen führen, indem man sich auf der Basis des erhaltenen Materials vorstellt, wie stark griechische Städte von Ehren- und Siegesdenkmälern geprägt waren, oder wenn man berücksichtigt, wie ehrenvoll das Ziel war, zu fast jedem Preis besser zu sein als alle anderen. Das moderne olympische Motto, „Dabeisein ist alles“, wäre für die antiken Griechen völlig unverständlich.
Alexander Meeus, 9. Juni 2017
Alexander Meeus ist akademischer Rat am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Mannheim.
Mehr zu diesem Thema:
Lukian, Anacharsis (Text aus dem 2. Jh. n. Chr., der das Agonale sehr gut erklärt).
A.E. Raubitschek, „The Agonistic Spirit in Greek Culture“, The Ancient World 7 (1983), 3–7.
I. Weiler, „Wider und für das agonale Prinzip – eine griechische Eigenart? Wissenschaftsgeschichtliche Aspekte und Grundsatzüberlegungen“, Nikephoros 19 (2006), 81–110. (kritischer Forschungsüberblick)