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Thukydides (ca. 460–400 v. Chr.) ist der Verfasser eines antiken Geschichtswerks über den Peloponnesischen Krieg. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurde es oft dafür bewundert, dass es vorausgreifende Ideen über die wissenschaftliche Geschichtsschreibung beinhalten würde, die vollständig mit der Herangehensweise der modernen Geschichtswissenschaft übereinstimmen. Einer dieser Aspekte der modernen, westlichen Geschichtswissenschaft ist eine starke Abneigung gegenüber Rhetorik, die oft als unanständig angesehen wird und nur dazu diene, Fiktion als Fakt darzustellen. Viele Bewunderer sehen das Werk daher nicht als ein rhetorisch ausgeprägtes und schenken der Rolle von Rhetorik in Thukydides’ historischem Narrativ wenig Aufmerksamkeit; die Reden sind selbstverständlich ein anderes Thema.
Zwar distanziert Thukydides in I 21.1 seine eigene Herangehensweise deutlich von dem der Dichter und Logographen (ob Redner oder Geschichtsschreiber gemeint sind, wissen wir nicht), die lediglich schreiben, um das Publikum zu unterhalten. Jedoch ist sein Ziel hier nicht nur, sein ausschließliches Interesse an der Wahrheit dazustellen, sondern auch polemisch Überlegenheit gegenüber denen zu beanspruchen, die er bezichtigt, einzig auf Unterhaltung abzuzielen. Diese Fälle von Eigenwerbung und Beschuldigung von Vorgängern sollten jedoch immer mit einer gewissen Skepsis begegnet werden. Man muss sich außerdem fragen, ob ein Text jemals komplett frei von rhetorischen Elementen sein kann, die im Grunde genommen lediglich ein Weg sind, Ideen möglichst überzeugend zu formulieren.
In diesem Kontext ist es hochinteressant, die wissenschaftlichen Interpretationen von Thukydides’ Aussage zu betrachten, dass kein anderes Ereignis im Peloponnesischen Krieg eine größere Panik hervorgerufen hätte als die peloponnesische Attacke auf Salamis im Jahr 429:
ἔκπληξις ἐγένετο οὐδεμιᾶς τῶν κατὰ τὸν πόλεμον ἐλάσσων
„eine Panik brach aus, die größer war als alle anderen während des Krieges“
(Thuk. II 94.1)
Jedoch scheint sich Thukydides in einer späteren Passage über den Aufstand auf Euboia im Jahr 411 zu widersprechen, indem er eine sehr ähnliche Aussage trifft:
ἔκπληξις μεγίστη δὴ τῶν πρὶν παρέστη
„die größte Panik, die es je gegeben hat, brach aus“
(Thuk. VIII 96.1)
Historiker haben den offensichtlichen Widerspruch als Zeichen von verschiedenen Kompositionsstadien interpretiert, nach denen sie bei Thukydides, anders als nach rhetorischen Elementen, schon lange bereitwillig suchen. In der Regel wird der Peloponnesische Krieg in drei Phasen unterteilt: Der Archidamische Krieg (431–421 v. Chr.), der Nikiasfrieden (421–416 v. Chr.) und der Dekeleische Krieg (415–404 v. Chr.). Die Aussage über den Angriff auf Salamis in II 94.1 wird von diesen Historikern dann so interpretiert, dass sie sich nur auf den Archidamischen Krieg beziehen würde und es wird folglich angenommen, dass sie vor 415 geschrieben worden sein musste. Diese Ansicht wird in den meisten Kommentaren zu Thukydides’ zweitem Buch deutlich:
„clearly, one would say, referring to the Archidamian War only, and written before 415 B.C. Cf. VII 71.7, VIII 1, 96.1“ (A.W. Gomme, A Commentary on Thucydides, books II-III, Oxford 1956, ad loc.).
„This was probably written with reference to the Archidamian War only: for later panic in Athens see VI 28–9, VIII 1.2, and (fear for the Piraeus again) VIII 92.3 with 94, 96; in 413 at Syracuse after the Athenian defeat in the great harbour ‘the immediate result was a panic as great as at any time’“ (P.J. Rhodes, Thucydides, History II, Warminster 1988, ad loc.).
„evidently an ‘early’ passage, written before 421“ (J.S. Rusten, Thucydides. The Peloponnesian War, book II, Cambridge 1989, ad loc., with reference to that part of the introduction on “Inconsistencies of detail” as “Evidence on composition”).
Dass die Aussage über die größte Panik als Beweis von Kompositionsstadien gesehen wird, ist wahrscheinlich am erstaunlichsten im Fall von P.J. Rhodes, da er gleich vor seiner Interpretation der Textstelle Thukydides’ Neigung zu Superlativen feststellt. Diese beschreibt er im Detail in der Einleitung zu seinem Kommentar (Ebd., S. 3–4), indem er Folgendes aufzeigt:
Though Thucydides’ narrative manner is commonly thought of as matter-of-fact, he is actually very willing to use superlatives. At the outbreak of the Peloponnesian War the Greek states were more powerful than ever before (I 1.3, 18.3–19, Archidamus in II 11.1); never before had there been such destructions of cities, banishment and slaughter of people, earthquakes, eclipses, famine and diseases (I 23.3); the losses of Ambracia in the battle at Idomene were ‘the greatest disaster to befall a single city in the same number of days in this war’ (III 113.6); the massacre at Mycalessus was a ‘lamentable disaster, second to none in the war for the size the place’ (VII 30.3); and the disaster suffered by the great Athenian invasion of Sicily was the greatest ever (VII 75.7, 87.5–6). In book II, there had never been such a fatal disease as the plague at Athens (47.3), ….
Auf dieser Grundlage scheint es klar, dass die Aussagen über die größte Panik in 429 und 411 als rhetorisches betonendes Element verstanden werden sollten, wie Hornblower richtigerweise in seinem Kommentar zu dieser Passage beobachtet:
„But at viii 96.1, Thucydides will say almost exactly this about the revolt of Euboia in 411. Strictly, this should mean that the present passage refers to the Archidamian War only, and consequences about composition dates would follow. But I cannot help thinking that this is to press unduly what is no more than a favourite Thucydidean way of making an emphatic point.“ (S. Hornblower, A Commentary on Thucydides, vol. I, Oxford 1991: ad loc.)
Doch nicht nur durch die bei Rhodes diskutierte Praxis des Thukydides, sondern auch durch die Übereinstimmung mit der Theorie zur epideiktischen Rede wird klar, dass diese Passagen tatsächlich als rein rhetorische Aussagen verstanden werden sollten. Epideiktik ist die rhetorische Gattung der Fest- und Gelegenheitsreden, zu der man auch die in der Geschichtsschreibung angewandte Rhetorik rechnete. Man beachte die folgenden Passagen aus rhetorischen Abhandlungen darüber, wie man nachdrücklich jemanden loben sollte:
„Es ist auch notwendig, viele Sachen hochzuspielen, z.B. wenn der Gelobte etwas als einziger oder als erster oder als einer von wenigen oder am meisten gemacht hat: Denn alle diese Sachen sind rühmlich.“ (Arist., Rhet. I 9.38)
„Man muß aber Taten auswählen, die durch Größe vorzüglich oder hinsichtlich der Neuheit die ersten oder in ihrem Wesen selbst einzig sind. Denn weder unbedeutende noch gewöhnliche noch gemeine Dinge pflegen der Bewunderung oder überhaupt des Lobes würdig zu erscheinen.“ (Cic., De Oratore II 85.347 – Übers. Kühner)
„[…] nur müssen wir wissen, daß es den Hörern willkommener ist zu hören, was jemand als einziger oder erster oder doch nur mit wenigen geleistet haben soll; ferner wenn etwas über das hinaus, was zu hoffen und zu erwarten war, gelungen ist, zumal aber, was er eher für andere geleistet hat als für sich selbst.“ (Quint., Inst. Orat. III 7.16 – Übers. Rahn)
All diese Theoretiker behandeln das Phänomen der Amplifikation (lat.: amplificatio), das im Grunde genommen alle Stilmittel zur Vergrößerung des rhetorischen Effekts einer Aussage beinhaltet und deutlich an Thukydides’ Praxis erinnert. Dass Aristoteles (384–322 v. Chr.) der frühste zitierbare Autor ist, kann dadurch erklärt werden, dass er der erste erhaltene Theoretiker der Rhetorik ist. Dies muss daher nicht zwangsläufig bedeuten, dass seine Theorie irrelevant für Thukydides ist. Und selbst wenn diese Theorie erst formuliert worden wäre, nachdem Thukydides sein Werk verfasst hatte, hätte er einen verbreiteten Trick genutzt, der lediglich noch darauf wartete, in Handbüchern zur Rhetorik theoretisiert zu werden.
Es wird daraus deutlich, dass wir antike Autoren niemals mit modernen Erwartungen an die Abwesenheit von Rhetorik bzw. dem Primat historischer Beschreibung über die Rhetorik lesen können. Während es eine legitime Beschäftigung für Wissenschaftler ist, nach Hinweisen für verschiedene Kompositionsstadien zu forschen, ist es immer riskant, unseren Wunsch nach nützlichen Erkenntnissen mehr zu gewichten als den historischen Kontext des Autors.
Alexander Meeus, 5. Oktober 2018
Alexander Meeus ist akademischer Rat am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Mannheim.
(Übersetzung: Simon Schall)
Weiterführende Literatur:
J.H. Neyrey, ‘“First”, “Only”, “One of a Few”, and “No One Else”. The Rhetoric of Uniqueness and the Doxologies in 1 Timothy’, Biblica 86 (2005), S. 59–87, auf S. 59–68 bietet er weitere Beispiele für rhetorische Theorie und Praxis (online abrufbar).
Über die antike Rhetorik im Allgemeinen siehe: L. Pernot, Rhetoric in Antiquity, Washington DC 2005.
Die Literatur zu Thukydides ist enorm. Unter vielen guten Einführungen siehe z.B.:
J. Marincola, Greek Historians (Greece & Rome: New Surveys in the Classics 31), Cambridge 2001, 61–104.
N. Morley, Thucydides and the Idea of History, London 2014, behandelt die Rezeption von Thukydides.
Über das Verhältnis von Rhetorik und moderner Geschichtsschreibung siehe z.B.:
J. Rüsen, Konfigurationen des Historismus: Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt a. M. 1993, 114–135.