Circus Maximus oder Kolosseum

Für die Römer keine Frage

(This text is also available in English)

Im Jahr 2008 veröffentlichte The Independent einen Artikel mit der Überschrift „Nach 1.500 Jahren als Ruine wird das Stadion der Gladiatoren instandgesetzt“ (Originaltitel: „After 1,500 years as a ruin, gladiators’ stadium to be restored“). Darin beschreibt der Autor, wie an einem jetzt her­untergekommenen Ort in Rom einst „Gladiatoren und wilde Tiere im tödlichen Kampf gegeneinander antraten und dass die Mitte der Arena oft geflutet wurde, damit Miniatur-Trieren dort zur Freude der Römer gegeneinander kämpfen konnten“. Dass sich der Artikel mit dem Plan der Soprintendenza Archeologica di Roma (des archäologischen Diensts des Ministeriums für Kulturgüter und Tourismus), zur Wiederherstellung des Circus Maximus und nicht des Kolosseums beschäftigt, spiegelt ironischerweise einen hartnäckigen Trugschluss wieder: Zwar war es der Circus Maximus, der die größte Zuschauermenge in Rom fasste, jedoch muss der Circus erst als „Gladiatorenstadium“ neuverpackt werden, um mit der zeitgenössischen Fantasie Schritt halten zu können halten zu können.

Die antike Realität gestaltete sich jedoch ganz anders als es unsere heutigen Erwartungen vermuten lassen. Zu den vielen Halbwahrheiten über die römischen Spiele, die sich besonders durch die Darstellungen in Film und Fernsehen in der Öffentlichkeit verbreitet haben, gehört auch die Ansicht, dass die Gladiatorenspiele die primären Spektakel in Rom gewesen sind: Zum Beispiel wird häufig angenommen, dass sie die meisten Zuschauer anlockten oder die glühendsten Fans besaßen. Tatsächlich entspricht keine dieser Annahmen der Wahrheit. Der Circus Maximus wurde mehrere Jahrhunderte früher gebaut und war wesentlich größer als das Kolosseum. Die Wagenrennen zogen zudem die größten Menschenmengen in Rom und dem gesamten Reich an und taten dies auch noch Jahrhunderte nachdem die Gladiatorenspiele verschwunden waren. Darüber hinaus gibt es keine Belege dafür, dass die Zuschauer in der Arena sich genauso fanatisch verhielten, wie diejenigen in den Circussen oder selbst den Theatern.

Worin bestand also der Reiz der Wagenrennen im Circus? Ein Tag dort konnte heiß, laut und dreckig sein, aber er hielt auch viele Attraktionen neben dem Nervenkitzel der Rennen an sich und den dazugehörigen Spektakeln bereit. Während die grelle Sonne die Sicht erschwerte, war es aufgrund des Gebrülls der Massen auch schwer etwas zu hören. Beide Probleme wurden durch ein Signal-System aus Trompeten und Rundenzählern auf dem sogenannten Euripus, der Trennwand in der Mitte der Rennbahn, geschmälert. Die Sitze im Circus, die als schmal, hart und dreckig beschrieben werden, führten zu weiterem Unbehagen. Aber weil hier Männern und Frauen rechtmäßig nebeneinander sitzen durften, ergab sich im Circus die Chance auf eine romantische Begegnung, was in den nach Geschlechtern getrennten Sitzreihen im Theater und Amphitheater unmöglich gewesen wäre (Ovid, Liebeskunst 1.142). Ovid rät seinen Lesern das beengte Zusammensitzen auszunutzen, um attraktive weibliche Besucher aufzureißen (1.135 ff.; cf. Amores 3.2).

Möglichkeiten und Chancen verbargen sich auch hinter den anderen großen Attraktionen des Rennens: den Preisen, Wetten und Flüchen. So veranstalteten neben anderen auch Hadrian und Nero kaiserliche Giveaways, bei denen kleine beschriftete Bälle in die Zuschauerränge geworfen wurden. Wer sie auffing, konnte Preise wie Essen, Kleidung und Tiere gewinnen (Cassius Dio 62.18.269.8.2). Wetten zu platz­ieren war weit verbreitet (Tertullian, De Spectaculis 16.1Martial, Epigramme 11.1.15) und das Ergebnis dieser Risikobereitschaft, ob positiv oder negativ, konnte prompt und emotional sein: So fiel in den Zuschauerrängen ein einfacher Bürger in Ohnmacht, als dem Pferd, auf welches er gewettet hatte, ein Aufholsieg gelang (Epiktet 1.11.27); ein Praetor hingegen verlor angeblich beim Wetten sein Vermögen – bei den Spielen, die er selbst organisiert hatte (Juvenal, Satiren 11, 194–96). Juvenal hält all diese Erlebniselemente fest – die Hitze, den Lärm, die Wetten, das verrückte Durcheinander der Menge – als er über das Geschrei im Circus jammert, das sein Gastmahl stört (Satiren 11.193).

Zusammengenommen betrachtet, zeigen die literarischen Quellen als auch die erhaltene visuelle und materielle Kultur (z.B. Fan-Andenken, häusliche Dekoration, Grabmonumente), dass die Circus-Spiele viel mehr waren als nur öffentliche, feierliche Veranstaltungen. Viel eher handelte es sich um Events, die eine signifikante Rolle dabei spielen konnten, auf welche Weise die Römer in allen Schichten der Gesellschaft ihre privaten Erfahrungen strukturierten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Arena. Eines ist sicher, die Hauptattraktion beim Besuch der Spiele war das spannungs­geladene Hochgeschwindigkeits-Spektakel: die Möglichkeit, seinen favorisierten Rennstall, Wagenlenker oder das Lieblingspferd siegen zu sehen während Leib und Leben riskiert wurden, und gleichzeitig mitzuerleben wie die Rivalen spektakuläre Unfälle bei ihrer Niederlage erlitten. Und dennoch konnte für viele Zuschauer ein Renntag auch persönliche Offenbarungen mit sich bringen – das Gewinnen eines Preises oder einer Wette, den Beginn einer Romanze in den Rängen, die Erfahrung einen Fluch in Erfüllung gehen zu sehen, Erlösung in einem Helden zu finden oder alle Hoffnungen im Angesicht seines Todes zu verlieren. Die Römer kamen nicht nur in den Circus, um im Trubel der Gegenwart zu leben, und um in der Menge andere zu sehen und gesehen zu werden, sondern auch um aus ihren alltäglichen, monotonen Leben auszubrechen, oder sogar um ihr Schicksal zu ändern. Das Potential solcher mitreißenden und dramatischen Momente erklärt unzweifelhaft, warum Juvenals Worte, selbst hunderte Jahre nachdem er sie niederschrieb, immer noch Wahrheit verkünden: „Ganz Rom fasst heute der Circus” (Satiren 11.197).

Sinclair Bell, 6. Oktober 2017

Sinclair Bell ist Associate Professor für Antike Kunstgeschichte an der Northern Illinois University.

(Übersetzung: Dominic Kaspar & Melanie Meaker)

 

Mehr zu diesem Thema:

Sinclair Bell & Carolyn Willekes, “Horse Racing and Chariot Racing.” In The Oxford Handbook of Animals in Classical Thought and Life, edited by G. Campbell, 478–90. Oxford: Oxford University Press 2014.

Sinclair Bell, “Roman Chariot-Racing: Charioteers, Factions, Spectators.” In Wiley-Blackwell Companion to Sport and Spectacle in Greek and Roman Antiquity, edited by P. Christesen and D. Kyle, 492–504. Malden, Mass.: Wiley-Blackwell 2014.

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