DFG-Forschungsgruppe:
Grammatische Dynamiken im Sprachkontakt: ein komparativer Ansatz (RUEG)

Die Fragen, warum und wie Sprachen sich verändern, wie wir uns die Entstehung neuer Eigenschaften sprachlicher Systeme erklären können und was Mehrsprachigkeit damit zu tun haben könnte, fasziniert Linguistinnen und Linguisten unterschiedlicher Teildisziplinen, synchron wie diachron, schon seit langem. Im Idealfall kann diesen Fragen durch die Erforschung typologisch unterschiedlicher Sprachen und anhand eines Vergleichs monolingualer und bilingualer Kontexte nachgegangen werden – und nicht zu vergessen mithilfe der tatkräftigen Unterstützung eines Teams von PIs, Postdocs, Promovierenden und Studierenden. All dies ist der Fall bei dem hier beschriebenen Forschungskollektiv, an dem Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler verschiedener Universitäten beteiligt sind: von der Humboldt Universität zu Berlin (Sprecheruniversität) und weiteren Universitäten in Potsdam, Stuttgart, Kaiserlautern und Mannheim.
Seit 2017 finanziert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) die Forschungsgruppe „Emerging Grammars in Language Contact Situations: A Comparative Approach“ (RUEG), in der die Konsequenzen eines sehr spezifischen Kontaktszenarium untersucht werden: der Wandel von Minoritätssprachen (auch „Herkunftssprachen“ genannt) im Kontext einer Majoritätssprache. Bei den im Projekt untersuchten Herkunftssprachen handelt es sich um Türkisch, Kurdisch, Russisch und Griechisch in Deutschland. Sie werden verglichen mit den entsprechenden Sprachen Zugewanderter in den Vereinigten Staaten. Zusätzlich dazu untersuchen die Mannheimer Projekte, wie sich das Deutsche in den USA entwickelt, wenn es sich als Familien- und Minoritätssprache im Kontext von Englisch als dominanter Umgebungssprache behaupten muss. Projektübergreifend wurden jugendliche und erwachsene Gruppen von Sprecherinnen und Sprechern mit den gleichen Methoden (genannt „Language Situations“, Wiese 2020) getestet. Dabei wurden gesprochene und geschriebene Daten, sowohl in formellen und informellen Kontexten, erhoben. Mittlerweile ist ein großer Teil des Korpus frei verfügbar (https://korpling.german.hu-berlin.de/annis3/#c=rueg).
Im Frühjahr 2021 begann die zweite dreijährige Förderphase der Forschungsgruppe, wobei sich bisherige PIs in neuen Teilprojekten zusammenfanden und einige Nachwuchswissenschaftler*innen durch die erfolgreiche Beantragung eigener Stellen hinzukamen. Im Folgenden werden die drei linguistischen RUEG-Projekte der Universität Mannheim kurz skizziert.
Forschungsteam
Lehrstuhl Anglistik I, über beide Projektphasen
Projektleitung: PD Dr. Mareike Keller, Prof. Dr. Rosemarie Tracy
Doktorandinnen: Johanna Tausch, Wintai Tsehaye, Nadine Zürn
Studentische Hilfskräfte: Nils Picksak, Elena Unger
Hilfskräfte Phase 1: Franziska Cavar, Ryan Caroll
Mercator Fellows
Phase 1: Maria Polinsky (Maryland), Shana Poplack (Ottawa)
Phase 2: Cristina Flores (Minho), Jeanine Treffers-Daller (Reading)
Beschreibung der geförderten Projekte
Im Fokus des ersten Teilprojekts mit dem Titel Clause structure in heritage German steht die Satzstruktur des Deutschen als Herkunftssprache. Untersucht wird die Kompetenz und Performanz von Sprecherinnen und Sprechern, die in den USA geboren wurden oder spätestens im Alter von 2–3 Jahren mit ihren Eltern in die USA ausgewandert sind. Sie haben Deutsch als Erst- und Familiensprache erworben und sind im Vorschulalter in Kontakt mit der Majoritätssprache Englisch gekommen, entweder als zweite Erstsprache oder als frühe Zweitsprache.
Untersucht werden Wortstellung, Argumentstruktur und ausgewählte morphologische Paradigmen (Subjekt-Verbkongruenz und Kasus). In Übereinstimmung mit den anderen RUEG-Projekten werden nicht-kanonische Phänomene identifiziert, die sich qualitativ und/
Ein Beispiel für einen von einem Heritage-Sprecher getippten formellen Text, einen Polizeibericht nach einem fiktiven Unfall, findet sich in (1). Man erkennt einen komplexen Satz mit strukturellen, lexikalischen und orthografischen Abweichungen vom Standarddeutschen, einschließlich einer angepassten Entlehnung (weder von Englisch whether) und einer Überblendung von irgendwer und irgendjemand.
(1) Die hatten beiden rausgekommen zu sehen weder des auto hatt irgendwehrmand wegetahn
Anhand solcher Daten ist es möglich, Eigenschaften von Registern zu identifizieren, die sich mehrsprachige Sprecher*innen aneignen konnten, obwohl ihre Erstsprache in ihrer Lebenswelt zunehmend von der Majoritätssprache in den Hintergrund gedrängt und nicht vom Bildungssystem unterstützt wird. Das Projekt vergleicht außerdem dieses von der zweiten Generation ausgewanderter Familien gesprochene Deutsch mit Daten aus einem vorherigen Projekt, in dem das Deutsche, das in den USA von Emigrant*innen der ersten Generation gesprochen wird, erhoben wurde.
Das Lexikon von Herkunftssprachen: Dynamiken und Schnittstellen ist eines der neuen Projekte der zweitenRUEG-Runde, das gemeinsam mit Prof. Dr. Anke Lüdeling (HU Berlin) durchgeführt wird. Es untersucht stabile und dynamische Eigenschaften des mehrsprachigen Lexikons – auch hier im Vergleich mit monolingualen Jugendlichen und Erwachsenen und auf der Grundlage der bereits verfügbaren Daten. Der Fokus auf das Lexikon ist u.a. deswegen relevant, weil der Wortschatz in der Herkunftssprache aufgrund des im Laufe der Zeit reduzierten Inputs Lücken aufweist. Diese werden auf spontan-kreative, aber doch oft systematische Weise gefüllt, was einen Einblick in Sprachwandelprozesse ermöglicht. Zudem fordert die Wahl des Wortschatzes die Monitoringfähigkeiten bilingualer Sprecher*innen in besonderer Weise heraus, wenn es darum geht, Szenen möglichst nur in einer Sprache zu beschreiben. Von speziellem Interesse sind das lexikalische Inventar und seine kombinatorischen Eigenschaften. In empirischer und theoretischer Hinsicht stehen dabei zwei Arten dynamischer Prozesse im Mittelpunkt: neue morphologische, syntaktische und pragmatische Eigenschaften des Wortschatzes, v.a. bezüglich komplexer lexikalischer Ausdrücke (z.B. Partikelverben, Nominalkomposita), sowie Koaktivierung und Monitoring bei der Sprachproduktion.
Ein weiteres neues Projekt widmet sich dem Transfer von Erkenntnissen der Forschungsgruppe. Es trägt den Titel Familien und ihre sprachlichen Dynamiken – Sprecher*innen von Mehrheits- und Herkunftssprachen stärken und wird zusammen mit Dr. Judith Purkarthofer (Universität Duisburg-Essen) durchgeführt. In enger Kooperation mit externen Partnern entwickelt das Projekt Bildungsressourcen für mehrsprachige Familien und Lehrkräfte sowie Materialien für die universitäre Lehre. Der Output des Projekts besteht aus einer multilingualen Open-Access Webseite mit Texten, Audio-Features und Videos sowie weiteren (Lehr-)Materialien, wie zum Beispiel einem Curriculum für Workshops. Die niederschwelligen Materialien eignen sich sowohl für interessierte Kinder und Eltern als auch für Fachkräfte im frühkindlichen Bereich, in der Sozialarbeit und in medizinischen Berufen, die sich mit Sprachdiagnostik beschäftigen. Alle Materialen widmen sich den folgenden fünf Themenbereichen: (1) Grundlagenwissen über Sprachen, Spracherwerb und Sprachverwendung; (2) Information über Sprachwandel in Sprachkontaktsituationen; (3) biographische Erfahrungen multilingualer Sprecher*innen; (4) Mythen über Sprachen und Mehrsprachigkeit, die es zu überwinden gilt, und (5) Anregungen zur Erforschung der eigenen Sprachbiographie. Die einzelnen Zielgruppen erfordern eine individuelle Zusammenstellung der Materialien – auch hierzu werden Interessierten Informationen zur Verfügung gestellt. Einen Einblick in die Webseite bietet www.ruegram.de. Des Weiteren findet sich eine digitale Posterausstellung, die in Zusammenarbeit mit RUEG entstanden ist und einige verbreitete Mythen zum bilingualen Spracherwerb und -gebrauch thematisiert, unter https://www.linguistik.hu-berlin.de/en/institut-en/professuren-en/rueg/7Punkte.